Ratibor (Racibórz)
Die gute Stube der Stadt ist der Ring, trotz des Namens als Zentrum und Marktplatz im Rechteck strukturiert. Auf den Ring hin angelegt ist die gotische Liebfrauenkirche, und mit dem Gesicht zum Ring steht die Domini-kanerkirche, heute gern St. Jakobuskirche genannt, eine gotische Kirche mit Veränderungen im Barock. Mittelpunkt auf dem Ring ist die Mariensäule. Prachtvolles Barock, ein Zeugnis zugleich dafür, daß Ratibor 200 Jahre bis 1742 der Oberhoheit der österreichischen Habsburger und mit ganz Schlesien Wien unterstand. Zuvor war es, gleichfalls fast 200 Jahre Böhmen mit Prag und zu dieser Zeit bereits dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zugehörig. Von 1742 bis 1945 ist Ratibor schlesische Provinzstadt in Preußen. Die mentale, nicht mehr die politische Verbindung der Ratiborer zu Österreich ist lebendig geblieben. Schon die nach Südwesten die Stadt verlassende Troppauer Straße sorgte mit ihrer Wegweisung nach dem 35 km entfernten Troppau, der Hauptstadt Österreichisch-Schlesiens, dafür, nach dem Ersten Weltkrieg in der neu gegründeten Tschechoslowakei gelegen. Und das Troppauer Theater, das sich nicht ohne Grund gern auf das Wiener Theater bezog, gab jahrelang in Ratibor Gastspiele. Ratibor durfte sich eine offene Stadt nennen. Dank der Eisenbahn und des frühen Anschlusses an das Verkehrsnetz verlief die wichtige Verbindung von Berlin und Breslau nach Wien und Budapest über Ratibor, und eine Eisenbahnausbesserungswerkstätte hatte hier ihren Standtort. Als Sohn eines Maschinenmeisters wurde 1855 der bedeutende Kirchenmusiker und Lehrer des Komponisten Paul Hindemith, Arnold Mendelssohn, geboren. Die Gedenktafel, die zu seinen Ehren im Eisenbahnviertel angebracht worden war, haben die Nationalsozialisten zertrümmert. Als Stadt der Arbeiter und Bauern hat Ratibor zwei Gesichter. Als Stadt der Arbeiter muß es allerdings abgegrenzt werden gegenüber dem oberschlesischen Industriegebiet von Beuthen, Gleiwitz, Hindenburg, von Kattowitz und Königshütte, in das es häufig gedanklich versetzt wird. Im heutigen "Brockhaus" werden als Industriebetriebe genannt: "Bau von Hochdruckkesseln und Eisenbahneinrichtungen, Maschinenbau, Brauerei, Zucker- und Bekleidungsindustrie", aber hier muß für Zwischenkriegszeit einiges nachgeholt werden: die Siemens-Planiawerke, wo 2.000 Arbeiter beschäftigt waren und Elektrodenstifte hergestellt worden sind, Seifenfabrik, Tabak- und Schokoladenfabrik, auch Sobtzick-Schokolade und Hückel-Hüte hatten das Markenzeichen Ratibor.
"Durch den Spruch von Genf", so hat sich der Oberbürgermeister der Stadt, Adolf Kaschny, später ein Mann des Widerstandes gegen den Diktator Hitler, ausgedrückt, "ist Ratibor am schwersten von allen oberschlesischen Städten betroffen worden. Schon das Versailler Diktat fügte der Stadt unheilbare Schäden zu. Aus dem Landkreis wurde sein fruchtbarstes und wegen seiner wohlhabenden bäuerlichen Bevölkerung kaufkräftigstes Gebiet, das Hultschiner Ländchen, der Tschechoslowakei einverleibt. Der Genfer Spruch verkleinerte die ohnehin schon geschmälerte wirtschaftliche Basis der Stadt bis zur Vernichtung." Mit dem Verlust an Polen waren es 43 Prozent des Landkreises mit etwa 65.000 Einwohnern. Der Pfarrer von Ratibor-Altendorf, der spätere Prälat Carl Ulitzka, Mitglied des Deutschen Reichstages von 1919 bis 1933, war der Wortführer des Verbleibs bei Deutschland, als Polen einen Anspruch auf ganz Oberschlesien erhob und schließlich darüber abgestimmt werden sollte. Er ist auch der Gründungsvater einer selbständigen Provinz Oberschlesien, und die Selbstverwaltung hatte ihren Sitz nunmehr in Ratibor, während der von Berlin ernannte Oberpräsident Oberschlesiens von Oppeln aus regierte. Der selbst erfahrene Kampf um Oberschlesien und die nach dem Ersten Weltkrieg in einer Entfernung von wenigen Kilometern gezogenen neuen zwei Grenzen zu Polen und zur Tschechoslowakei mögen mit ein Grund dafür sein, daß bald nach der Vertreibung in die Bundesrepublik Deutschland Ratiborer als Sprecher für die Vertriebenen gewirkt haben: Dr. Walter Rinke, Dr. Julius Doms und Dr. Herbert Hupka. Auch der Mitbegründer der Deutschen Freunschaftskreise nach der Wende vom 1989/90 stammt aus dem Kreise Ratibor, Blasius Hanczuch. Das Land der Bauern reichte bis an die Stadtgrenze heran. Das Gemüse zeichnete sich gleich dem Sauerkraut und den sauren Gurken durch Qualität besonders aus. Nachts fuhren die Lastwagen mit dem reichen Angebot ins Industriegebiet, und die Ratiborer Bauern waren auf den Märkten präsent. Das Gesicht der Stadt wurde gleichzeitig geprägt durch die oberschlesische Tracht der bäuerlichen Frauen mit den weiten, langen und übereinander angelegten Röcken, mit den schönen Kittelblusen und den glanzvollen Schürzen. Wie der Bergmann zum industriellen Oberschlesien gehört, so der Ratiborer Gemüsebauer mit seiner Familie zu der Stadt an der Oder.
Neun Kilometer oderabwärts liegt Lubowitz, wo Joseph Freiherr von Eichendorff 1788 geboren worden ist. Bis in seine Studentenjahre hinein war der später so berühmte Romantiker mit Ratibor eng verbunden. 1909 wurde er mit einem Denkmal geehrt. Nachdem dieses Denkmal nach Ende des Zweiten Weltkrieges demontiert worden war und als verloren galt, wurde 1994 das Denkmal neu gegossen und wieder aufgestellt. Heute liegen immer wieder Blumen in Verehrung vor dem Denkmal! Wer sich eine Stadt dank ihrer Sehenswürdigkeiten aneignen will, dem sei empfohlen, Halt zu machen vor den beiden großartigen Kirchen aus der Gotik, in der Kapelle des Schlosses in Ostog, aber auch vor der Herz Jesu Kirche, einem modernen Bau der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts, vor der Wallfahrtskirche Matka Boza am Rande der Stadt, selbstverständlich vor der Mariensäule auf dem Ring und dem Eichendorff-Denkmal auf der Bahnhofstraße, heute nach Adam Mickiewicz benannt und nicht zuletzt auch die Oder in seinen Blick miteinzubeziehen. Neben Lubowitz, wo auch heute die Erinnerung an den Dichter Eichendorff liebevoll gepflegt wird, ist unbedingt ein Besuch in Rauden mit der prachtvollen Barockkirche zu empfehlen. Und in Bolatitz, im früheren Kreis Ratibor, im Hultschiner Ländchen ist 1901 der Schriftsteller August Scholtis geboren, Verfasser bedeutender Romane aus dem oberschlesischen Volksleben.
Zur Stadtgeschichte sei knapp nachgetragen, daß Ratibor erstmalig als Oderburg 1108 genannt wird, mit Beginn des 13. Jahrhunderts folgte die deutsche Ansiedlung, 1241 wird Ratibor vergeblich von den Mongolen gestürmt, 1299 erhält die Stadt das Magdeburger Stadtrecht, 1281 bis 1532 Hauptstadt des gleichnamigen Fürstentums. Prag, Wien und Berlin werden in den Jahrhunderten Richtpunkte für das politische Geschehen. Nach dem Ersten Weltkrieg erhebt Polen Anspruch auf Ratibor, das Abstimmungsergebnis erbringt diese Zahlen: 24.675 Stimmen für Deutschland, 2.227 für Polen. Ratibors Oberbürgermeister Adolf Kaschny, ein Sohn des Hultschiner Ländchens, sagte 1927 die Stadt rühmend: "Ratibor, die alte Haupt- und Residenzstadt des ehemaligen Herzogtums, jetzt Provinzialhauptstadt der Provinz Oberschlesien, an der Oder nicht weit von der alten österreichischen Grenze gelegen, spielte als Ausfallstor nach den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie und nach dem Balkan schon von jeher eine bedeutende Rolle." Im Zweiten Weltkrieg blieb Ratibor bis kurz vor Schluß von Bombenangriffen verschont, aber im Februar und März 1945 mußte es gegen die Rote Armee der Sowjetunion verteidigt werden, am 31. März 1945 fiel die Stadt. Plünderungen, Vergewaltigungen, Erschießungen waren die Folge. Es brach der todbringende Hunger-typhus aus. Die Stadt brannte jetzt, mutwillig angesteckt, nahezu aus. Auf 70 bis 80 Prozent werden die Verluste geschätzt. Schon im April 1945 begann eine polnische Verwaltung. Vertreibungen setzen ein. Patenstadt für Ratibor ist seit 1951 Leverkusen in Nordrhein-Westfalen. 1998 hat zum ersten Mal das heutige Ratibor ein Ratiborer Heimattreffen, vordem in zweijährigem Wechsel stets in Leverkusen, vorbereitet und organisiert. In dem jetzt möglichen, sonntäglichen deutschsprachigen Gottesdienst in der Dominikanerkirche findet sich das deutsche Ratibor, wie es bis 1945 bestanden hat, als geschichtsträchtige Erinnerung wieder.
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